Bleiberecht für "faktischer Inländer" obwohl Gefährder
Kann ein "faktischer Inländer" abgeschoben werden, weil er ein Gefährder ist? Eine Person mit ausländischen Wurzeln, die ihr ganzes Leben in Deutschland gelebt hat, soll abgeschoben werden, weil sie sich radikalisiert hat und zu einer Gefahr für Deutschland werden kann. Darf das sein? Das Bundesverwaltungsgericht hat am 14. Januar 2020 (Az. 1 B 13/20) etwas dazugesagt. Mehr dazu lesen Sie unten.
BVerwG kippt Abschiebungsanordnung gegen Gefährder
In seinem Urteil hob das BVerwG die auf §58a AufenthG gestützte Abschiebungsanordnung des niedersächsischen Innenministeriums auf. Das Ministerium ging davon aus, dass sich der Antragsteller, der im Sommer 2018 nach Göttingen gezogen war, aufgrund seines Umgangs mit Mitgliedern der radikalen Salafistenszene selbst radikalisiert habe. Das BVerwG sah dagegen keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Antragsteller eine islamistische Gefahr darstelle.
Stadt ordnete Ausweisung an
Am Tag der Urteilsverkündung wies die Stadt Göttingen als örtlich zuständige Ausländerbehörde den Antragsteller auf der Grundlage der §§53 bis 55 AufenthG aus Deutschland aus und ordnete die sofortige Vollziehung der Entscheidung an. Die Stadt Göttingen begründete die Ausweisung im Wesentlichen mit dem Vorstrafenregister des Antragstellers und seiner besonderen Gefährlichkeit. Sein Interesse, in Deutschland zu bleiben, müsse dagegen zurückstehen. Hiergegen legte der Antragsteller Beschwerde ein. Außerdem beantragte er vorläufigen Rechtsschutz.
Antragsteller genießt erhöhten Abschiebungsschutz
Das Verwaltungsgericht gewährte vorläufigen Rechtsschutz. Nach einer summarischen Prüfung war die Abschiebung des Antragstellers rechtswidrig. Der Antragsteller konnte sich auf den erhöhten Ausweisungsschutz für bestimmte türkische Staatsangehörige nach §53 III AufenthG berufen. Dieser Ausweisungsschutz, der nach dem Assoziierungsabkommen EWG/Türkei besteht, setzt voraus, dass die Ausweisung zum Schutz grundlegender Interessen der Gesellschaft unerlässlich ist.
Dieser Schutz bleibt auch dann bestehen, wenn ein schwerwiegender Ausweisungsgrund vorliegt. Von dem Antragsteller geht - aufgrund seiner bisherigen Straftaten und seines aktenkundigen Persönlichkeitsprofils - eine konkrete Gefahr aus, dass er in Zukunft Straftaten begehen wird.
Ausweisung nicht zwingend erforderlich
Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts überwiegt das Ausweisungsinteresse nicht das Bleibeinteresse des Antragstellers. Der Antragsteller ist bisher nur zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, und hat einige Geldstrafen erhalten. Diese Verurteilung sei nicht widerrufen worden und liege mehr als sieben Jahre zurück, und es seien Geldstrafen verhängt worden. Er sei in Deutschland geboren, habe immer ein Aufenthaltsrecht gehabt - seit 2006 unbefristet - und sei in Deutschland verwurzelt. Seine gesamte Familie sei zwar türkischer Herkunft. Er sei jedoch als minderjähriges Kind nach Deutschland gekommen und lebe seither hier. Sein Interesse am Verbleib als sogenannter "faktischer Inländer" wiege daher in der Gesamtabwägung besonders schwer und überwiege das Interesse an der Ausweisung.
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